Was für ein Gedenktag! Ein wahrer Höllenritt von hoffnungsvollem Aufbruch nach tiefem Fall über einen durch nichts wiedergutzumachenden Tag der rassistischen Mordlust hin zu einem Tag uneingeschränkter Freude friedlicher Menschlichkeit. Kaum ein Tag, der die neuere deutsche Geschichte so auf den Punkt bringt wie dieser. Ich finde es nach wie vor schade, dass man sich nicht getraut hat, diesen Tag als Feiertag einzuführen. Jedes Jahr könnte man den nachfolgenden Generationen vor Augen halten, wie alles zusammenhängt, wie sich Geschichte entwickelt, wie Geschichte nicht einfach passiert, sondern von Menschen gemacht wird.
Menschen, die in der Lage sind, nach einer unfassbaren Katastrophe mit Millionen von Toten dennoch etwas Neues zu schaffen, Hoffnung zu schöpfen und Energie umzulenken hin auf die Kreation neuer staatlicher Strukturen in Freiheit und Gleichheit mit Demokratie und Grundrechten.
Menschen, die in der Lage sind, jegliche Empathie und Mitmenschlichkeit von sich zu streifen und in unfassbarer Niedertracht einem Teil ihres eigenen Volkes – Nachbarn, Kollegen, Bürgern, Frauen, Kindern und Männern – eben dieses Menschsein abzusprechen, sie ihrer Menschenwürde zu berauben, sie zu verfolgen, auszugrenzen und zu ermorden.
Menschen , die in der Lage sind, sich zusammenzutun und gegen Unrecht aufzustehen, Mut und Zivilcourage in sich zu entdecken und gemeinsam den Willen zur Freiheit in eine friedliche Revolution zu kanalisierern, die einen diktatorischen und scheinbar alles kontrollierenden Staat zu Fall bringt.
All das vereint der 9. November in sich. Diese drei Tage hängen unverbrüchlich zusammen – der 9. November 1918 mit Philipp Scheidemanns Ausrufung der Republik am Ende des Ersten Weltkriegs, der 9. November 1938 mit der sog. Reichspogromnacht, in der die Verfolgung jüdischer Mitbürger in Deutschland eine unvorstellbare Eskalation erfuhr und damit den Weg zum Holocaust ebnet, und der 9. November 1989 mit dem Fall der Mauer im Rahmen einer friedlichen Revolution gemeinschaftlichen Bürgerwillens.
Dazwischen liegen exakt 71 Jahre. Es gab Menschen, die haben all das erlebt. Im Rahmen eines Menschenlebens. Was für eine Geschichte, die unsere Vorfahren geschrieben haben. Was für eine Verantwortung, die wir Nachgeborene tragen, wenn wir uns dieser Geschichte stellen und daraus lernen wollen.
Mir wird an diesem Tag immer klar, wie wichtig das Einstehen für Freiheit und Gerechtigkeit ist, was wir an unserer Demokratie haben, und dass wir gegen neuen Nationalismus und Rassismus kämpfen müssen – am Arbeitsplatz, im Bekanntenkreis, im Bus, auf der Straße, überall, jeden Tag. Ich möchte nicht eines Tages aufwachen und erkennen müssen, dass die Menschlichkeit verachtenden Kleingeister, Brandstifter und Nationalisten wieder an die Macht gekommen sind!
Als ich noch ein Kind war, hing lange Jahre an meiner Zimmertür der Spruch: „Der Frieden der Welt fängt im Kinderzimmer an!“ Wie wahr! Wir sind es, die die Welt verändern können. Wir sind es, die Frieden schaffen können. Und wir müssen uns entscheiden: Wollen wir für Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden und Menschlichkeit eintreten oder wollen wir wieder daneben stehen, wenn um uns herum des Menschen Würde mit Füßen getreten wird?
Ich habe mich entschieden!