Als die Truppen der Roten Armee am 27. Januar 1945 das Konzentrationslager Auschwitz befreiten, fanden sie nur noch 7.600 Häftlinge vor. Alle anderen letzten Überlebenden – rund 58.000 Männer, Frauen und Kinder – waren zehn Tage zuvor aus den Lagern in und um das polnische Oswiecim auf die sogenannten Todesmärsche Richtung Westen gezwungen worden. In den Monaten vor der Befreiung hatten die Nazis noch versucht, alles zu zerstören, was Zeugnis hätte geben können von der grausamen Ermordung von weit über einer Millionen Menschen durch Arbeit, Hunger, Menschenversuche und Gas. Die Krematorien waren gesprengt worden, die Akten vernichtet. Hinterlassen hatten sie Berge von Herrenanzügen, Damenmänteln, Schuhen, Brillen, Gebissen und fast acht Tonnen menschliches Haar.

Auch wenn der Tod in Auschwitz wie in einer Fabrik ablief, so waren es doch Menschen, die all dies taten. Menschen, die anderen Menschen ihr Menschsein so vollkommen absprachen, dass sie sich berechtigt fühlten, ihnen das Leben zu nehmen. Nur weil sie anders waren als sie selbst. Dabei waren sie gar nicht anders. Alle waren sie Menschen. Opfer wie Täter. Das ist es, was man nicht versteht. Auch 75 Jahre danach nicht. Bis heute fehlen einem die Worte für diese Unmenschlichkeit. In diesem Ausmaß. Ich verneige mich vor den Opfern. Und verstumme.

Aber das ist es, was sie wollten. Dass wir stumm bleiben. Dass wir schweigen.

Und das ist es, worauf sie auch heute wieder bauen, die neuen Nationalisten und Menschenverachter. Dass wir schweigen!

Nein! Nein! Nein! Wir dürfen nicht schweigen. Nicht im Angesicht von Auschwitz! Es muss etwas erwachsen aus diesem Elend, aus diesem Wahnsinn von damals. Nach dieser langen Zeit erst recht! Es ist der Auftrag an uns alle, die Erinnerung wachzuhalten und die Menschen wachzurütteln, für die Menschlichkeit einzustehen. Im Kleinen wie im Großen. In der Familie und am Arbeitsplatz. In der Schule und am Stammtisch. Im Parlament und am Fließband. In uns selbst und aus uns selbst heraus!

Dann kann es doch noch gut werden.

Nein, wir dürfen nicht schweigen!