Der Feigenbaum

von Michael Heger

Der alte Herzog saß auf dem Turm seiner Burg und blickte hinaus über das Meer. Die Herzogin legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: „Er kommt gewiss erst morgen. Es ist schon spät.“

„Gewiss, ja. Morgen wird er kommen.“

Die Herzogin half ihm auf. Gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter und legten sich zur Ruhe.

„Heute. Heute kommt er. Ich spüre es“, sagte der Herzog am nächsten Tag. Gleich nach dem Morgenmahl ging er wieder auf den Turm, setzte sich auf den Stuhl und ließ seinen Blick über das Meer schweifen.

Am Abend kam die Herzogin wieder und meinte: „Er wird noch einen Tag brauchen. Es ist eine lange Reise.“

„Ja, ja. Du hast Recht. Er wird sich Zeit lassen, nach all den Anstrengungen.“

„Vielleicht kommt er auch über Land. So sind sie damals losgezogen. Dann braucht er natürlich länger“, sagte die Herzogin am nächsten Abend, als sie den Herzog wieder hereinholte.

Der aber schüttelte den Kopf. „Nein! Zurück kommt er mit dem Schiff. Er ist der Sohn eines Herzogs!“

Am nächsten Tag, um die Mittagsstunde, sah die Herzogin aus dem Fenster einen einsamen Reiter nahen. Wie angewurzelt blieb sie stehen und hielt sich die Hand vor den Mund. In langsamem Trott kam der Reiter auf die Burg zu. Auch der Herzog hatte ihn längst bemerkt. Er beobachtete, wie er durch das Dorf und dann durch das offene Burgtor in den Hof ritt. Die Hufe des Pferdes hallten durch die leere Burg. Der Reiter blieb stehen und sah sich um. Da er niemanden erblickte, stieg er ab, ging zum Brunnen, holte Wasser und gab seinem Pferd zu trinken. Dann erst trank auch er von dem Wasser. Er gab seinem Pferd Heu aus dem Stall, warf die Satteltaschen auf das Stroh, legte sich daneben und schlief ein.

Der Herzog und die Herzogin gingen hinunter in den Hof und betrachteten den Schlafenden.

„Er ist es nicht“, sagte schließlich der Herzog und kehrte zurück auf seinen Turm.

Der fremde Reiter blieb drei Tage bei ihnen. Sie teilten das Wenige, was sie zu essen hatten und gaben ihm ein Bett zum Schlafen. Noch am ersten Abend, als sie zusammen am Kamin saßen, fragte die Herzogin nach dem Kreuzzug. Ob es wahr sei, dass die Kreuzfahrer den Sieg davon getragen hätten und wirklich in Jerusalem eingezogen seien.

Zunächst zögerte der fremde Reiter. Nach einer Weile aber begann er zu erzählen. Er erzählte von dem großen stolzen Heer, mit dem er ausgezogen war, um Jerusalem für die Christenheit zurückzuerobern. Er erzählte von den siegreichen Belagerungen von Nicäa und Antiochia und von der ruhmreichen Schlacht am Pass von Doryläum, von den Eroberungen feindlicher Burgen und von den Siegen über fremde Heerscharen. Von Jerusalem erzählte er nichts. Eine Zeitlang schwieg er. Nur das Knistern des Feuers im Kamin war zu hören. Dann begann er erneut zu erzählen. Aber dieses Mal erzählte er von dem elend langen Weg, von den Entbehrungen, von Krankheiten, Hitze und Hunger, von Angst und schweren Träumen. Mit leiser Stimme sprach er von den vielen tausend Toten, von Christen und Muslimen, die gleichermaßen ihr Leben lassen mussten.

Und ja, auch er hatte gehört, dass Jerusalem am Ende vom Kreuzritterheer siegreich erobert worden war.

Der Herzog hörte zu und versuchte, zu verstehen. Dabei dachte er an seinen Sohn. Den er vor vielen Jahren auch auf den Weg nach Jerusalem geschickt hatte. Ein gerechter Krieg, so hatte es geheißen. Gott will es, hatte es geheißen – Deus lo vult.

Er hatte Ländereien verkauft, ganze Dörfer und ihre Felder, um Rüstungen und Verpflegung, Pferde und gute Leute bezahlen zu können. Ein großes Ritterheer hatte seine Burg verlassen, um sich dem Zug anzuschließen. Mit seinem Sohn an der Spitze. Der sollte sich damit endlich um sein Erbe verdient machen. Bis dahin hatte er sich nur als Träumer bewährt, der jeden noch so langen Tag mit Geschichten und Liedern vertändeln konnte. Er sollte hart werden im Kampf und sich als Anführer seiner Männer bewähren. Eines nicht mehr allzu fernen Tages würde er ein starker Herrscher sein müssen. Und so hatte der Herzog seinen Sohn in diesen Heiligen Krieg geschickt.

„Wieso ist hier niemand mehr?“, fragte der Reiter den Herzog am dritten Morgen und zeigte um sich auf die verfallene Burg.

„Ich weiß es nicht“, sagte der Herzog leise. „Ich habe meinen Sohn fortgeschickt, wie es sich für einen Herzog im Dienste seines Königs geziemt. Und er hat sich dem gebeugt, wie es sich für den Sohn eines Herzogs geziemt. Doch kaum, dass der letzte Mann hinter der Kuppe des Hügels verschwunden war, merkte ich, wie sehr er mir fehlte, wie sehr er doch ein Teil von mir ist. Von da an war alles andere nicht mehr wichtig. Aber es war zu spät, zu spät.“

„Seitdem sitzt er jeden Tag auf dem Turm und wartet auf die Rückkehr unseres Sohnes. Die Zügel seiner Herrschaft sind ihm entglitten, aber er tat nichts dagegen“, sagte die Herzogin. „Nach und nach sind sie alle gegangen. Das Reich ist nun nicht mehr und die Burg verfällt. Ab und zu kommen ein paar treue Bauern und bringen uns zu Essen.“

„Wie lange ist das her, dass Euer Sohn fortzog?“, fragte der fremde Reiter.

„Drei Jahre und zwei Monate und sieben Tage“, sagte der Herzog.

Der fremde Reiter legte einige Scheit Holz nach und setzte sich wieder an den Tisch. „Als ich nach Konstantinopel kam, lernte ich einen Ritter kennen, ein Mann, gerade mehr als ein Jüngling. Viele Wochen währte unser Lager nahe der Stadt. So zog ich oft mit ihm zur Stadt hinauf und wir wanderten gemeinsam durch die Straßen und Gassen. Er war fasziniert von der Fülle der Farben, den Gerüchen der Gewürze auf dem Basar, den Aquädukten und Kanälen, den Häusern für die Kranken, und diesem Schmelztiegel einer Stadt, in der Menschen aus aller Herren Länder und aller Religionen zusammen lebten.

Später fanden wir uns beide im Gefolge von Gottfried von Bouillon wieder und setzten zusammen über den Bosporus, als es endlich weiterging. Ich genoss seine Gesellschaft. Seine ansteckende Freude am Leben stärkte uns, selbst an den endlos langen Tagen in den weiten Ebenen Anatoliens, in der Hitze, bei Durst und Hunger. Wenn es uns nur um die nächste Wasserstelle ging oder um ein Tier, das man schlachten konnte, zeigte er uns die Farben des Sonnenuntergangs und den Flug der Falken. Er erklärte uns die Sterne und öffnete unsere Augen für die Schönheit einer seltenen Blüte. Wo wir Hinterhalt und Verrat, Feinde und Beute sahen, sah er Bäume und Berge, Menschen und Tiere.

Verse konnte er dichten, und die Leier spielte er wie kein zweiter. Ritter wie Knechte kamen des Nachts in unser Lager, um zu hören, wenn er am Feuer von seiner Heimat, vom Meer und von der Liebe sang und uns seine Geschichten erzählte. Im Schutze der Dunkelheit träumten wir uns dann, getragen von seinen Worten und seinen Liedern, nach Hause. Zu Weib und Kind, zu Hof und Feld.

Immer wieder verließ er unseren Zug und lebte bei den Beduinen, bei den Bauern und Hirten des Landes. Viele Tage später holte er uns wieder ein und hortete einen Schatz an neuen Geschichten und Weisheiten, die er gesammelt hatte bei diesen Menschen. An den Abenden flocht er sie kunstvoll in seine Erzählungen ein und warb für Demut unserer Herzen, wenn es um unsere Feinde ging. Bisweilen stand der ein oder andere Kreuzritter erzürnt auf und verließ unsere Runde, sobald er die Botschaft seiner Geschichten verstanden hatte. Doch für jeden der ging, kamen zwei neue, die seine Geschichten hören wollten und blieben.

Der Fortgang des Kreuzzuges lastete schwer auf seiner Seele. Er litt unter den nicht enden wollenden Kämpfen und Schlachten, die so vielen Menschen den Tod brachten. Er war kein großer Kämpfer, gerade so, dass er überlebte. Was an ihm lag, so erbarmte er sich seiner Gegner, wenn der Kampf entschieden war. Umso mehr verzweifelte er, wenn unsere Männer raubten, plünderten und wie in einem Rausch mordeten. Sollte dies nicht ein Heiliger Krieg sein? Geheiligt durch das Ziel, das uns auferlegt war? Und nun waren wir häufig nicht besser als Strauchdiebe und Mörder, die man daheim an den Pranger gestellt und verurteilt hätte. Es zehrte an seiner Seele. Wusste er doch, dass er ein Teil des Ganzen war, auch wenn er in den Tiefen seines Herzens so weit weg von diesem Kreuzzug war wie der Himmel von der Erde.

Bald hörte er auf zu singen, kein Gedicht kam mehr aus seinem Mund, keine Geschichte belebte mehr unsere Abende. Ja, ich selbst musste ihn nun auf die prächtigsten Sonnenaufgänge hinweisen. Er sah sie nicht mehr.

Eines Abends, es muss an der Küste vor Tyrus gewesen sein, erzählte er mir ein einziges Mal von seinem Vater, einem Herzog. Wir saßen bis zum Morgengrauen vor unserem Zelt und er erzählte von einem großen Reich, von einer Burg am Meer, von Ländereien und Dörfern, Bauern und Leibeigenen. Und dass ihm eines Tages all das zufallen würde und er zu herrschen hätte. Als Herzog. Mit harter Hand, wie es erwartet wurde von ihm. Damit alles beisammen bleibe, was sein Vater und seines Vaters Vater aufgebaut hatten. Mit harter Hand.

Er wusste, er würde es nicht können.

Erst jetzt verstand ich, was ihn all diese Zeit am Leben erhalten hatte: Er war als Suchender ins Heilige Land gezogen. Er hoffte dort, nahe der Spuren Jesu, seinen eigenen Weg im Leben zu finden. Ein Weg, weit weg von der harten Herrschaft eines Herzogs oder dieses todbringenden Kreuzzugs.

Nach dieser Nacht verlor ich ihn für eine Weile aus den Augen. Später erzählte man mir von einem schweigsamen Ritter, der sich am Ende des Zuges um die Sterbenden und die Siechen kümmerte. Ein Ritter, der sein Schwert nicht mehr anrühren wollte und den Rest seiner Männer aus seinen Diensten entlassen hatte. Ich wusste, dass er es war, von dem man sich erzählte.

Als wir die Berge Judäas überquerten, traf ich ihn endlich wieder und wir ritten zusammen weiter. Er schwieg auch bei mir, doch seine Augen hatten wieder Leben in sich und erzählten mir, dass er wohl gefunden, wonach er gesucht hatte. Bald erkannten wir die Namen der Orte, durch die wir zogen, als jene, die in den Büchern der Bibel genannt waren. Da verfing endgültig ein neues Feuer in ihm. Ja, ich wagte zu hoffen, er würde wieder derselbe werden wie am Anfang, als ich ihn kennenlernte. Tagsüber verließ er, obgleich es gefährlicher denn je war, wieder häufig den Zug und suchte die Stätten auf, an denen Jesus gewirkt hatte. Meist kam er erst kurz vor Einbruch der Dunkelheit zurück. Bald begann er auch wieder Geschichten zu erzählen. Ganz andere allerdings als früher. Er erzählte von wunderlichen Ländern ohne Burgen und Mauern, in denen dennoch Frieden herrschte, von Ländern, in denen alle Menschen – Könige oder Bauern – von Geburt an frei und gleich waren, von Ländern, in denen Reichtum nicht nur in Gold zu bemessen war. Manche Geschichten erzählten von einem Reich, in dem jeder leben konnte ohne Hunger zu leiden, ohne sich vor dem nächsten Tag zu fürchten, weil alle das teilten, was sie dem Land gemeinsam abgewannen. Andere Geschichten handelten von Königen, deren Streben einzig dem Erhalt des Friedens galt und nicht der Erweiterung ihrer Macht. Ich erkannte wohl, dass sich seine Geschichten aus den Lehren Jesu speisten. Aus jenen Lehren, die wir alle zusammen in diesem Krieg wie ein scheinbar stumpf gewordenes Schwert grob beiseite gestoßen hatten, obwohl wir doch in Seinem Namen ausgezogen waren.

Ich weiß nicht, wann er in dieser Zeit Schlaf gefunden hat. Abends saß er mit uns am Lager, nachts kümmerte er sich um die Sterbenden und tagsüber ritt er fort ins Land. Sein Feuer loderte wild, wie in einem Fieberrausch lebte er. Als ob er ahnte, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, so zu leben, wie er es für sich entschieden hatte.

Und dann kam der Tag, an dem er nicht mehr zurückkam. Gleich früh am Morgen saß ich auf und ritt seinen Spuren hinterher. Als die Mittagssonne am höchsten stand, sah ich sein Pferd in der Ferne stehen, alleine. Ich ritt näher heran. Er lag unter einem Feigenbaum, ganz still, gerade so wie wenn er schlafen würde. Dann erst sah ich den Pfeil, der sein Herz durchbohrt hatte.

Mit meinen eigenen Händen habe ich ihn dort begraben. Im Schatten des Feigenbaumes. Mitten im Heiligen Land.

Einen Mond noch kämpfte ich mit mir und mit unseren Feinden. Ich sah Jerusalem von ferne, dann stand mein Entschluss fest. Ich kehrte um. Keine Ruhmestat in den Augen der Kreuzfahrer. Verräter und Feigling waren noch die freundlichsten Worte, die mich verfolgten. Nur jene, welche all die Abende mit uns am Feuer gesessen und seinen Geschichten gelauscht hatten, schwiegen und sahen mir lange nach.

Auf dem Heimweg kehrte ich noch einmal zu seinem Grab zurück. Der Feigenbaum, der seinen Schatten über das Grab legte, war übervoll mit reifen Früchten.

Nun komme ich endlich nach Hause. Ich will mein Land wieder bestellen und ernten, was ich säe, meinen Kindern das Funkeln der Sterne zeigen und sie Friedfertigkeit lehren, auf dass sie das Leben zu schätzen wissen. Und ich will die Hoffnung auf einen guten Gott nicht aufgeben.“

Bei diesen Worten nahm der fremde Reiter sein Messer und durchtrennte ein ledernes Band, mit dem ein kleiner Beutel an seinem Gürtel befestigt gewesen war. Den Beutel legte er in die Mitte des Tisches und sagte:

„Ich danke für Eure Gastfreundschaft. Gehabt Euch wohl!“

Damit verließ der fremde Reiter die Kammer, ging in den Hof, sattelte sein Pferd und ritt durch das Burgtor hinaus in die Welt jenseits der verfallenen Burgmauern.

Der Herzog blickte verloren ins Nichts. Schweigend hatte er der Erzählung des fremden Reiters zugehört und schweigend stand er nun auf, ging auf den Turm, setzte sich wieder auf seinen Stuhl und sah über das Meer, gen Osten.

Die Herzogin blieb noch lange am Tisch sitzen. Schließlich band sie den Beutel auf, den der fremde Reiter hinterlassen hatte und leerte ihn auf den Tisch. Sieben getrocknete Feigen fielen ihr entgegen.

Später am Tage, als sie keine Tränen mehr in sich hatte, nahm sie eine goldene Schatulle aus der großen Truhe in der Kammer, ging ins Dorf hinunter und sprach mit den verbliebenen Bauern, mit den Ältesten und mit dem Mönch.

Es dauerte fast drei Jahre, ehe die Burg wieder in alter Pracht erstanden war. Das Reich war kleiner geworden, das Dorf hingegen größer. Die Burg stand allen Bauern und ihren Familien offen, unter ihrem Schutze konnten sie ihre Felder bestellen. Der Ertrag wurde gerecht und gleich unter allen geteilt, so dass alle davon leben konnten. Für die Kranken, die Alten und die Sterbenden wurde in der Burg gesorgt. Ein Mönch unterrichtete gelegentlich die Kinder der Bauern.

Und über all dies wachte die Herzogin.

Man nannte sie die ‚traurige Herzogin’, weil sie binnen eines Jahres ihren einzigen Sohn und ihren Mann, den Herzog, verloren hatte. Ihr Volk verehrte sie für ihre Gerechtigkeit allen Menschen guten Willens gegenüber. Eine harte Hand erwies sie nur denen, die ihr Reich bedrohten. Jeden Tag ging sie durch das Dorf und sprach mit den Menschen und freute sich an den Kindern. Spielleute und Sänger hieß sie immer willkommen, ihre Geschichten zu erzählen und ihre Lieder zu singen. Dann stand das Leben still und alle kamen zuzuhören, allen voran die Herzogin. Auch ging sie bei der Ernte zur Hand und in der Kirche stand sie mitten unter ihnen. Bei alledem blieb sie die Herzogin, respektiert und erhaben.

Und im Frühjahr jenes Jahres blühte im Schutze der Burgmauer, zur Morgensonne im Osten gerichtet, erstmals ein kleiner Feigenbaum.

ENDE