Ein weiter Weg

von Michael Heger

Einen Fuß vor den anderen. Erst den, dann den. Immer abwechselnd. Ist doch ganz einfach. Verlernt man nicht. Wie Radfahren. Ach, ist das herrlich, mal wieder in den Wald zu gehen. Aber wieso habe ich eigentlich Sandalen an? Sind das Sandalen? Ist doch alles Schnee hier! Schnee … Gerade haben wir noch Hausaufgaben gemacht, Trude und ich, dann hieß es, pack den kleinen Koffer mit Sachen, in vier Stunden ist der Russe da. Fort, fort.

Mein Gott, dieser Weg nimmt kein Ende. Die Kälte quält und lähmt. Die Mutti hätte mir doch die anderen Schuhe rausstellen müssen. Komm, Trude, nicht zurückfallen. So viel Schnee, alles weiß. Und was ist das da, neben dem Weg? Schau nicht hin, Trude, schau auf deine Füße! Auf deine Füße sollst du schauen! Die armen Teufel, für die können wir nichts mehr tun. Ich hab ja viel mit den Russen gehandelt später. Isolierfenster, da flogen die drauf nach der Öffnung. Da ging‘s nochmal bergauf mit der Firma. Und gestern sagt mir Martin, er wird Insolvenz anmelden. Für Flüchtlinge und Sozialschmarotzer sei Geld da, aber für den Mittelstand nix, sagt er. Ich wäre ja gut gewesen in der Schule. Daheim war ich immer Klassenbester! Aber es musste ja Geld reinkommen. Also Schreinerlehre. Eine von denen hat mich sogar angespuckt damals. Ich hätte ihrem Adi die Lehrstelle weggenommen. Als Flüchtlingskind! Einem von da! Ein Skandal, auf dem Dorf. Dem Dorf!

Martin könnte uns auch mal wieder besuchen. Helga würde sich so freuen. Halt, nein. Die lebt nicht mehr, die Helga. Wer war das nochmal, Helga? Ich kannte mal eine Helga, die war auch von daheim. Komm, wir gehen tanzen, Walter. Na und? Dann lass sie doch schauen. Wir dürfen genauso zum Tanzen wie die auch. Walzer mit Helga … Dadidadi, didumdidai …

Um mich nur Bäume und Schnee. Wo seid ihr? Mutti? Trude? Ich höre etwas. Motorenlärm. Ein Jagdflugzeug! Runter! In die Büsche, fort vom Weg, Trude! Er stürzt in den Wald, Äste schlagen ihm ins Gesicht, zerreißen seine Kleider. Das Flugzeug kommt näher, immer lauter wird es. Er wirft sich hin, in den Schnee. Runter! Runter! Und halt‘ die Hände über deinen Kopf, Trude! Dann wird es wieder leiser. Es ist weg, Gottseidank.

Ich glaube, ich blute. Die Knochen tun mir weh. Es ist schon ein Kreuz mit 83. Da kommt jemand. Eine Frau mit Hund. Der Hund bellt. Eiligen Schrittes geht sie vorüber, weg von dem alten Mann mit dem zerzausten weißen Haar und dem Blut im Gesicht, der auf allen Vieren aus dem Dickicht kriecht. Ein Loch in der Hose, da wird die Mutti wieder schimpfen. Können wir nicht rasten hier? Nur kurz verschnaufen, die Trude ist schon ganz still vor Müdigkeit und Kälte. Da kommt einer gelaufen. Aber der läuft in die falsche Richtung, da ist doch der Russe. Er hat eine Lampe am Kopf. Wie die Grubenarbeiter daheim, in den Minen. Der Jogger sieht ihn zu spät, rutscht aus und läuft schimpfend vorbei. „Ey, Alter, was soll’n das?“
Ach, lassen wir ihn. Komm, Trude, wir müssen wieder weiter.

Da vorne. Ein Licht. Ein Haus. Er spürt seine Füße nicht mehr. Erst den, dann … was jetzt? Verdammt, ist doch wie …
Die Tür des Hauses öffnet sich, ein Mann tritt heraus mit einem Eimer und leert ihn in den Wald.
„Hallo, Sie!“
Der Mann fährt herum und sieht den Alten auf dem Weg. Er rennt ins Haus zurück und wirft die Tür zu. Dann steht er am Fenster und noch ein paar Männer mit ihm.
Walter fällt auf die Knie und lässt den Kopf hängen. Kann nicht mehr. Da geht die Tür des Hauses wieder auf. Zwei Männer kommen näher und reden in einer fremden Sprache.

Dann tragen sie ihn ins Haus. Auf einmal Wärme. Es riecht nach Holzfeuer und nach Essen … irgendein Gewürz. Es riecht wie … ich komme nicht drauf. Aber ich kenne es. Er liegt auf einer Matratze. Sie mummen ihn in eine Decke. Einer zieht ihm behutsam die Sandalen aus und badet seine Füße in einer Schüssel mit warmem Wasser. Es kribbelt, es tut weh, er stöhnt. Sehen Sie’s doch mal so, Frau Kirschner. Wenn Ihnen der Walter jetzt stirbt, dann haben wir alle ein Maul weniger zu stopfen. Sie, und wir auch. Wir haben doch alle nicht genug!

Eine Frau beugt sich über ihn. Sie hat ganz dunkle, braune Hautfarbe, kurze schwarze Haare und große weiße Augen. Walter erschrickt. Sie wischt ihm mit einem Lappen das Blut vom Gesicht. Ach Mutti, tut das gut. Er fasst ihre Hand. Sie stutzt, dann macht sie weiter. Familie! Auf die ist Verlass. Nur auf die. Mutti, Trude und ich, das ist jetzt die neue Heimat. Die Frau hält seinen Kopf. Helga, bist du das? Helga und ich und der kleine Martin. Familie. Unsere Familie. Die Leute vom Dorf? Kannst du vergessen, da werden wir nie dazu gehören!

„Wie du heißen?“
Er räuspert sich und sagt: „Das heißt: Wie heißt du?“
„Ah, okay. Wie heißt du?“
„Ja, ja, so ist es richtig jetzt.“
Die starren mich alle so an. Muss ich was sagen?
Walter lächelt. Die anderen lächeln auch.
„Wie du heißen?“
Wie ich heiße, wollen sie wissen.
Walter lächelt. Die anderen lächeln auch.

Dann reden sie untereinander. Sie gehen an eine Jacke, die über einem Stuhl hängt und greifen in die Taschen. So eine Jacke hatte ich auch mal. War gute Qualität. Da, die haben ja meine Geldbörse, die durchwühlen sie. „Das ist meine, verdammt, gebt sie wieder her, ihr …!“ Mutti, unsere Lebensmittelmarken! Er wirft die Decke von sich, stürzt auf den Mann zu und reißt ihm die Geldbörse weg. Alles fällt heraus, Münzen kullern über die groben Holzdielen. Walter wirft sich auf die Knie, rafft alles zusammen, stopft Zettel, Geldscheine, Münzen wieder zurück. Da hält er auf einmal einen laminierten Zettel in der Hand, signalrot. „Ich heiße Walter Kirschner. Ich wohne in der Siedlerstraße 12 in Detmold. Ich habe Demenz. Bitte rufen Sie meinen Sohn Martin an. 0176 310 4385. Vielen Dank!“

Walter hält inne. „Walter!“ Die wollten doch wissen, wie ich heiße. „Walter.“ Heiße ich … Walter …? Ich kenne einen Walter, ganz sicher, ich … auf der Zunge, gleich …

Nacheinander stellen sich die Männer und Frauen vor:
„Yusuf.“

„Alim.“

„Djamal.“

„Karim.“

„Rana.“

„Ayasha.“
Dann zeigen sie auf Walter. „Hallo, Walter!“, und lachen.
Rana nimmt ihm behutsam den Zettel aus der Hand, holt ein Handy und geht vor die Tür. Djamal führt ihn wieder zum Bett, deckt ihn zu. Gute Nacht Mutti, gute Nacht Trude. Gell, Mutti, hier ist es gut, endlich gut. Hier können wir bleiben. Bleiben. Bleiben.

„Ach Papa, was machst du denn schon wieder für Sachen?“ Noch ein Mann. Der ist neu. Wie gehört der denn jetzt dazu?
„Papa! Du hast keine Ahnung, wer ich bin, stimmt’s?“
Papa, das heißt Vater … „Na hör mal, klar weiß ich das!“
Ich habe einen Sohn. Wie schön. Dann kann ja doch nicht alles umsonst gewesen sein. Ein Sohn.
„… fahren jetzt.“
Der fremde Mann packt mich am Arm und schiebt mich zur Tür. Er will offenbar, dass ich mit ihm gehe.

“Wohin soll ich denn jetzt? Haben Sie wenigstens ein Auto?“
„Papa, das Auto steht draußen, komm jetzt. Danke, dass Sie ihn gefunden haben. Kann ich Ihnen …?“ Unschlüssig zieht Martin seine Geldbörse, aber Djamal wehrt ab: „Nein, nein!“, und lacht übers ganze Gesicht. „Freund!“
Martin lächelt gezwungen. Er schiebt seinen Vater zur Tür.
Walter murmelt: „Erbärmlich, wie die hier hausen müssen.“
„Ihr habt damals auch in Baracken gewohnt, jahrelang, nach dem Krieg. Sollen sie doch einfach wieder gehen, wenn’s ihnen nicht passt. Zurück! Heim! Dahin, wo sie hergekommen sind!“
„Ja, der Krieg … der hat uns alles genommen. Du, vielleicht nimmt uns der Bauer Kühnel auf. Der hat Mutti gestern extra einen Knochen für die Suppe gebracht. Au, war die gut!“
„Ja, ja, deine alten Geschichten kenn‘ ich. Steig ein, Papa. Jetzt geht‘s nach Hause.“
Nach Hause. Das ist gut. „Ja, lass uns nach Hause gehen.“
Vor der Baracke stehen Alim, Djamal, Karim, Yusuf und Rana.
Martin drückt auf seinem Navi herum. Walter winkt aus dem Auto heraus. Nach Hause! „Achthundert Meter geradeaus, dann rechts abbiegen!“ Martin fährt los. Auf einmal schreit Walter: „Halt an, halt an!“ Martin steigt auf die Bremse. „Was ist? Hast du was vergessen, Papa?“
„Ja, hab ich. Ja, ganz gewiss habe ich etwas … vergessen.“
Walter öffnet die Tür und steigt aus. Der Motor läuft, die Scheinwerfer erleuchten den schneebedeckten Weg. Aus der Hütte strahlt warmes Licht, durch eines der Fenster erkennt man Ayasha, wie sie am Ofen sitzt und ihr Kind stillt.
Walter schließt die Autotür und geht auf das Haus zu.
„Papa, bleib jetzt hier!“
Walter hört ihn nicht mehr. Er lacht und geht auf das Haus zu. Einen Fuß vor den anderen. Erst den, dann den. Jetzt weiß ich es wieder. Immer weiter. Nach Hause. Heim.